November 2010
In Lindemanns Bibliothek ist ein nicht alltägliches Weihnachtsbuch mit dem Titel "Karlsruher Weihnachten" erschienen. Weihnachten im Dezember - klar, das ist immer so, das kennt man. Aber Weihnachten im Sommer? Auch das kann passieren, zumindest in diesem Buch. Autorinnen und Autoren meiner Heimatstadt Karlsruhe haben sich in ihm Gedanken über das Fest der Feste gemacht und nähern sich mal absurdheiter, mal besinnlichfestlich dem Thema Weihnachten und allem, was dazu gehört. Gedicht steht hier neben Geschichte, Mundart neben Hochdeutsch, Plauderton neben Essay ... Sehr gerne habe ich die Einladung angenommen, bei dem Buch mitzumachen.
Eine andere Weihnachtsgeschichte
Wir haben die Pudelmützen schon wieder herausgeholt.
Und wieder steht ein Weihnachten vor der Tür.
Damit nicht alles bleibt, wie es war.
Im Jahr 1992. Du kommst mit Deinen Eltern in unser Land, das für Dich völlig fremd ist. Ihr wollt in Deutschland niemanden besuchen, und Ihr seid auch keine Touristen. Ihr seid auf der Flucht, habt Euere Heimat, Euere Familie, Euere Freunde, Euere Habe verlassen müssen. Ich weiß nicht, ob es Hunger, Krieg, politische Verfolgung waren, die Euch zwangen, zu uns zu kommen. Aber das ist auch nicht so wichtig. Ich sehe, dass Ihr verzweifelt seid, dass Ihr Hilfe braucht, dass Ihr hier bei uns Schutz sucht. Ihr habt viel von unserem Land gehört, in dem Milch und Honig fließen sollen. Bei den Behörden werdet Ihr unter dem Begriff Asylbewerber registriert. Es fällt Euch sehr schwer, bei uns zu Recht zu kommen. Ihr sprecht nicht unsere Sprache, habt andere Sitten und Gebräuche, eine andere Kultur als wir. Ihr seht anders aus als die Menschen bei uns. Überall, wo Ihr hinkommt, werdet Ihr misstrauisch beobachtet. Niemand scheint mit Euch etwas zu tun haben zu wollen. So viele haben Angst, sie müssten Euretwegen auf etwas verzichten, Ihr wolltet vielleicht gar etwas von ihrem fetten Braten abhaben.
Ihr habt Hunger. Doch an den Schildern unserer Restaurants hängen Schilder: "Reserviert !". Ihr habt Angst, traut Euch nicht auf die Straßen. Viele von Euch wurden schon von den Glatzen mit ihren Baseballschlägern zusammengeschlagen, und an viele Häuser sind Hakenkreuze und Parolen wie "Deutschland den Deutschen – Ausländer raus !" gesprüht. Ihr habt keine Wohnung. Mit vielen anderen Menschen, die auch aus ihrer Heimat haben flüchten müssen, und die aus den verschiedensten Ländern kommen, müsst Ihr Euch einige Quadratmeter Zimmer, Küche, Toilette teilen.
Dann scheint Ihr Glück zu haben. Es ist Weihnachten. Die Einheimischen stellen Tannenbäume auf, laden Euch ein, zünden Kerzen an, singen Lieder, geben Euch zu essen. Sie schaffen Platz in der Herberge für Euch. Dich wickeln sie in Windeln und legen Dich in eine Krippe. Endlich schläfst Du einmal wieder ein, ohne zu frieren.
Doch in der Nacht klirren plötzlich die Fensterscheiben. Ein fürchterlicher Knall weckt Dich auf. Irgendetwas fliegt in die Herberge, die auf einmal in Flammen steht. Deine Krippe brennt, Du brennst, alles brennt lichterloh. Du hast schreckliche Schmerzen, schreist, hörst Deine Eltern schreien.
Am Morgen stehen viele Menschen betroffen vor der abgebrannten Herberge. Einige legen Blumen nieder, wo Deine Krippe stand. Manche sagen, sie hätten nie gedacht, dass so etwas in Deutschland noch einmal passieren könnte.
Andere, das hätte ja so kommen müssen. Irgendwann würde halt auch das größte Fass einmal überlaufen. Die Politiker drücken in den Rundfunk- und Fernsehsondersendungen ihre Betroffenheit aus, wünschen uns noch rasch "Frohe Weihnachten !", dann verabschieden sie sich in ihren lange geplanten Weihnachtsurlaub.
Wolfgang Abendschön
Aus dem Buch "Karlsruher Weihnachten"
Herausgegeben von Thomas Lindemann mit Dieter Splinter
Paperback * 184 Seiten * ISBN 978-3-88190-567-1